Meine Helden in der Coronakrise
Liebe Mitglieder und Interessierte,
vor einigen Tagen erreichte uns ein sehr persönlicher und rührender Brief aus der Schweiz. Wir danken der Verfasserin Frau Mulcock, dass wir ihren Brief in dieser doch sehr bewegenden Zeit mit Ihnen teilen dürfen.
Meine Helden in der Coronakrise:
Meine 2 Söhne (20 und 14) haben einen Gendefekt, das sog. Fragile-X Syndrom. Dieser Gendefekt hat u.a. eine geistige Behinderung zur Folge.
Ich verabscheue das Wort „Defekt“, denn aus meiner Sicht und auch aus ihrer eigenen sind sie nicht defekt, sie möchten nicht anders sein als sie sind, und sie leiden nicht unter dem Fragilen-X , sondern nur unter der Intoleranz und dem Unverständnis für ihre Situation in der Gesellschaft.
Aber das ist eine andere Geschichte …
Ich habe schon immer darüber gestaunt, und sie auch dafür bewundert, dass sie beide nur im Jetzt leben, die Zukunft nicht planen oder kontrollieren wollen, und im absoluten Vertrauen darin sind, dass alles gut ist- und wenn es mal nicht gut ist, dass es dann aber wieder gut wird.
Dieses Urvertrauen in die Güte des Lebens wird so oft als Naivität, mangelnder Intellekt oder nicht vorhandenes Vorstellungsvermögen interpretiert.
Aber stellen wir uns nur einmal vor, dass sie Recht haben in der Annahme, dass alles gut ist oder wird, und dass es gilt, das Leben immer nur im Jetzt zu leben, ohne voller Sorgen in die Zukunft zu sehen.
Wie viele von uns kriegen Angstvorstellungen, wenn sie nicht immer alles unter Kontrolle haben, oder wenn sie ihr Leben nicht bis ins Detail vorgeplant haben, für alles eine Versicherung abgeschlossen haben – sogar über den eigenen Tod hinaus?
Ich behaupte wir alle empfinden zumindest Unbehagen dabei.
Und dann kommt plötzlich eine in diesem Ausmaß nie dagewesene Pandemie, alles hält an, wird still, man schließt die Türen vor der Außenwelt, bleibt zu Hause, Panik macht sich breit, Zukunftsängste, Jobverlust, wirtschaftliche Katastrophen werden bis ins kleinste Detail in unzähligen Sondersendungen im Fernsehen prognostiziert, sämtliche Pläne für die Zukunft können erst einmal begraben werden, die vermeintliche Kontrolle ist weg und der erholsame nächtliche Schlaf auch.
Der gesamte Planet scheint sich neu zu ordnen, ist im Umbruch, Chaos, Fragezeichen, innere Unruhe, Nervosität, Krisen …
…. doch plötzlich beobachte ich meine Jungs und mir fällt auf, dass sie dieselben geblieben sind, voller Freude über jeden neuen Tag, den sie zu Hause mit ihrer Familie verbringen können, über das leckere Essen, eine Radtour bei herrlichem Wetter, die wöchentliche Vorabendserie, die – Gott sei Dank – noch im Fernsehen läuft, Badminton spielen im Garten, ein Besuch beim benachbarten Bauernhof, wo man jetzt nicht nur Eier sondern auch Masken kaufen kann.
Ich erkenne, dass meine beiden Söhne meine Helden sind, von denen man so viel lernen kann, dass sie den Durchblick hatten und haben, nicht wir!
Und ich erkenne, dass die vermeintliche Kontrolle und Planbarkeit des Lebens eine Illusion war, die einem das Gefühl von Sicherheit vorgegaukelt hat.
Ich merke, dass unser Verstand uns den Blick für das Wesentliche und wirklich Wichtige genommen hat.
Und ich nehme mir fest vor, mir ab jetzt an ihrer Lebensphilosophie ein gutes Beispiel zu nehmen und zu verstehen, dass jeder einzelne Moment zählt, nicht die Aussicht auf Morgen oder danach.
Da fällt mir auch wieder ein, was mein Vater, der vor knapp einem Jahr verstarb, öfters zu mir sagte:
„Das Leben besteht aus ganz vielen kleinen aneinandergereihten Momenten, und je mehr schöne Momente Du hattest, desto schöner war Dein Leben am Ende.“.
Wenn man es so betrachtet, scheint es gar nicht so schwer erreichbar zu sein, das erfüllte schöne Leben.
Von Kristin Mulcock, Nyon/Schweiz.