Übergangssituationen
Jeden Tag begegnen wir im Alltag vielen Übergängen – wir wechseln Situationen, Orte, Räume, Gesprächsthemen. Häufig nehmen wir diese Übergänge nicht einmal als solche wahr. Kinder mit Fragilem-X Syndrom (kurz FraX) haben jedoch häufig Schwierigkeiten mit den Veränderungen, die diese Übergänge mit sich bringen und reagieren ängstlich, manchmal auch mit Verweigerung oder Wut.
Alltagssituationen wie der Übergang von den Eltern in die Obhut der Erzieher im Kindergarten, der Weg aus einem Klassenraum in einen anderen, der Wechsel von einem Unterrichtsfach und Lehrer zu einem andern können zu großen Herausforderungen (für Kinder mit FraX UND ihren Betreuungspersonen) werden.
Kindern mit FraX ist nicht immer klar, was passiert, wenn sie die Situation oder den Ort verlassen an dem sie sich befinden. Wohin gehe ich? Was begegnet mir auf dem Weg? Was wird von mir erwartet? Wie viele Menschen werden ‘dort’ sein? Dies beunruhigt und irritiert Kinder mit FraX häufig und sie sind meist nur schwer wieder von diesen Gedanken und Sorgen abzubringen – besonders IN der Übergangssituation selbst.
Es gibt jedoch Möglichkeiten und Wege, diese Übergänge für Kinder (und auch Erwachsene) mit FraX zu erleichtern. Statt die Übergänge zu erklären, kann ein einfaches – und dabei äußerst effektives – Mittel z.B. eine Karte sein, die das Kind mitnehmen und an einem ihm bekannten Ort wieder ablegen bzw. abgeben muss. Man kann dem Kind auch die Aufgabe geben, einen Stapel Bücher oder Hefte in den nächsten Klassenraum zu tragen. Dies unterbricht die Sorgen, lenkt den Fokus auf die Aufgabe, die zu erledigen ist und minimiert so den Zeitraum den der Übergang in Anspruch nimmt.
Das vorausschauende Verhalten der Betreuungspersonen ist hier der Schlüssel zur Unterstützung der Kinder. Mit ein wenig Kreativität und Phantasie sind diese Aufgaben leicht zu generieren und ohne größeren Aufwand in den Alltag zu integrieren.
Geburtstags-“Meltdown”
Ihr Kind mit FraX hat Geburtstag! Es ist ein augenscheinlich toller Tag – es begann zu Hause mit einem Geburtstagsfrühstück, in der Schule wurde ihrem Kind ein Geschenk überreicht, es wurde von Lehrern und Mitschülern beglückwünscht und besungen. Am Nachmittag kommen viele Gäste ins Haus, die alle das Geburtstagskind begrüßen, ihm gratulieren, es umarmen… Geschenke werden überreicht und ausgepackt. Sind alle Gäste da, wird ein Geburtstagsständchen gesungen und das Geburtstagskind wird lautstark aufgefordert, die Kerzen auf der Torte auszublasen…
Und Ihr Kind? – beginnt zu weinen, verschwindet allein in seinem Zimmer, bekommt einen Wutanfall?
Haben Sie sich auch schon mal gefragt, warum sich Ihr Geburtstagskind so verhält?
Die Antwort ist einfach – ein Kind mit FraX steht nur ungern im Zentrum der Aufmerksamkeit, es fühlt sich am wohlsten in gewohnten Situationen und Umgebungen. Dies ist an so einem besonderen Tag nicht gegeben und Ihr Kind fühlt sich vermutlich unsicher und ängstlich. Das Level an Aufgeregtheit ist hoch und für Ihr Kind ab einem gewissen Zeitpunkt nur noch schwer zu ertragen. Manchmal hat das auch Auswirkungen auf Situationen, in der eine nahestehende Person im Mittelpunkt steht und Ihr Kind hält sich die Ohren zu, wenn für seine Geschwister ein Geburtstagslied gesungen wird. So ein Geburtstag ist natürlich immer ein aufregendes Erlebnis.
Sie können jedoch versuchen, im Vorfeld ein wenig entgegenzuwirken, indem Sie sorgfältig vorplanen und Ihr Kind in einer ruhigen Art darauf vorbereiten – heben sie sich die Aufregung für den Geburtstag auf! Vielleicht lassen Sie ihr Kind die Tischkarten mitgestalten oder selbst schreiben, damit es genau weiß, wer zu erwarten ist. Vielleicht verlegen Sie die Feier auf einen anderen Tag, laden nur wenige Menschen ein und feiern draußen im Garten, um genügend Raum zu haben und den Geräuschpegel niedrig zu halten.
Schauen Sie hier auf die besonderen Bedürfnisse Ihres Kindes, damit der Tag nicht in einem „meltdown“ endet, sondern für das Geburtstagskind – und alle seine Gäste – zu einem schönen Erlebnis werden kann!
Unangemessenes Verhalten in der Öffentlichkeit (was ist privat erlaubt, was öffentlich?)
Menschen mit geistiger Behinderung sind Teil der Gesellschaft in der wir leben. In dieser Gesellschaft gibt es gewisse Verhaltensnormen und -regeln. Die meisten Menschen entwickeln natürlicherweise prosoziales, angemessenes Verhalten, Menschen mit geistiger Behinderung müssen jedoch die Unterscheidung von Verhalten in der Öffentlichkeit und Verhalten im privaten Raum manchmal lernen.
Wir legen in der Erziehung und Bildung den Fokus gern auf die akademische Ausbildung unserer Kinder – mit und ohne Behinderung. Gerade bei unseren Kindern mit geistiger Behinderung haben wir jedoch eine besondere Verantwortung, damit sie sich in der Öffentlichkeit und im Umgang mit ihren Mitmenschen nicht unangemessen – oder im schlimmsten Fall sogar gesetzeswidrig – verhalten.
Daher ist es unerlässlich, ihnen Sicherheit im Umgang mit ihren Mitmenschen zu vermitteln, indem wir ihnen Verhaltensregeln für die Öffentlichkeit und das private Umfeld mitgeben. Dies sollten wir Eltern früh beginnen – zusätzlich kann es im Rahmen eines Sozialkompetenztrainings (häufig von Autismus-Therapie-Instituten angeboten) erfolgen, zudem ist es sehr hilfreich, auch die Schule bzw. den Kindergarten mit ins Boot zu holen.
Das Training beinhaltet die Unterscheidung öffentlicher und privater Räume sowie die Unterscheidung, für welches Verhalten welcher Rahmen angemessen ist. Da Kinder mit FraX meist ein gutes visuelles Gedächtnis haben, ist die Verwendung von Bildkarten und Piktogrammen dringend empfohlen. Außerdem sollte man in Alltagssituationen darauf achten, immer sofort auf Fehlverhalten zu reagieren. Wenn ein Kind mit FraX z.B. ein für den öffentlichen Raum unangemessenes Verhalten zeigt, sollte es augenblicklich darauf hingewiesen werden, dass das Verhalten ‘privat’ ist.
Hier ist eine – erweiterbare – Übersicht, an der man sich für das Training und die Erstellung von Bildkarten orientieren kann:
VERHALTEN
Öffentlich: Naseputzen, Händchenhalten, Telefonieren, Tanzen, Händeschütteln, High-Fives, Umarmungen, Schulterklopfen, Wangenküsse, Essen, jemanden anlächeln, Komplimente machen
Privat: Nasebohren, Schlafanzug tragen, Urinieren, Stuhlgang haben, wickeln, Tampon- oder Bindenwechsel, Masturbieren, Um- und Auskleiden, Pupsen, Küssen, intimes Berühren, Baden, Duschen, Deo benutzen, Fluchen, Kraftausdrücke verwenden, Zähne putzen, sehr dicht bei einem Menschen stehen, Adresse oder Telefonnummer geben, Hand in die Hose stecken
ORTE
Öffentlich: Theater, Restaurant, Schule, Kirche, Wohnzimmer, Küche, Gemeinschaftsräume, Öffentliche und private Verkehrsmittel, Bücherei, Spielplatz, Geschäft, Museum, Park
Privat: Schlafzimmer, Badezimmer, Hotelzimmer, Toiletten mit geschlossener Tür, Untersuchungszimmer Krankenhaus/Arzt
PERSONEN
Öffentlich: Postboten, Busfahrer, Kellner, Verkäufer, Handwerker, Lehrer, Polizisten, Feuerwehrleute, Nachbarn, Bekannte
Privat: Eltern, Geschwister, Großeltern, Freund, Freundin, Ehe- oder Lebenspartner, nahestehender Freund/Freundin, Arzt, Therapeut