Geschwisterkinder in Familien mit Fragilem-X (kurz FraX) sind in einer besonderen Situation.
Ihre beeinträchtigten Brüder oder Schwestern sind häufig stark entwicklungsverzögert und verhaltensauffällig, manchmal auch autistisch. Die Ängste, Stimmungsschwankungen und die soziale Scheu der betroffenen Kinder erschweren für die Familie, aber besonders für die Geschwisterkinder, jeden Gang in der Öffentlichkeit. In jedem Fall ist ihr Leben so anders als das ihrer Mitschüler, was gerade für Heranwachsende eine schwierige Situation darstellen kann.
Oftmals stellen sie ihre eigenen Bedürfnisse zurück, um Eltern nicht zusätzlich zu belasten, lernen früh Verantwortung zu übernehmen.
Aber so unterschiedlich wie ihre beeinträchtigten Brüder und Schwestern sind auch die Geschwisterkinder und so unterschiedlich sind auch ihre Strategien mit der Behinderung umzugehen.
Hilfen können Eltern unter den folgenden Links erhalten. Hier gibt es auch Literaturempfehlungen.
- “Ich komme sehr gut damit klar, dass mein Bruder FraX hat und könnte mir nie vorstellen, einen Bruder ohne Behinderung zu haben. Ich liebe ihn wie er ist und würde mir auch nie wünschen er wäre gesund, weil wir sonst wahrscheinlich nicht so gut miteinander auskommen würden. Es gäbe die ganze Zeit Streit, wie es unter Geschwistern so üblich ist. Er sagt mir, wo ich meine Sachen liegen gelassen habe, wenn ich sie nicht finde. Als Gegenleistung dafür bringe ich ihm neue Dinge wie deutlich sprechen oder kleine Legosteine zu einer Katze zusammen zu setzen bei.”
(Kati, 15 Jahre)
- “Ich bin die Schwester eines Jungen mit FraX. Natürlich ist mein Alltag davon beeinflusst, aber nicht nur negativ! Viele meiner Freundinnen haben als ich ihnen das erste Mal von meinem Bruder erzählt habe distanziert gewirkt, andere hatten Mitleid mit mir. Ich möchte kein Mitleid! Die Meisten wissen gar nicht, wie es sich anfühlt, einen Bruder oder eine Schwester mit Behinderung zu haben. Aber das Mitleid und die Unsicherheit waren dann auch bald zum Glück kein wirkliches Thema mehr. Vielleicht war ein Grund dafür, dass ich direkt auf meine Freundinnen zugegangen bin und ihnen genau das gesagt habe, was ich denke: Kein Mitleid!
Manchmal kann mein Bruder ziemlich nerven. Er macht viele Geräusche und stört mich oft bei meinen Hausaufgaben oder wenn ich Musik höre. Das kann einem auf Dauer ziemlich auf die Nerven gehen. Wenn ich Besuch von meinen Freundinnen habe, sagen sie immer: „Oh wie süß, was er für Geräusche macht“. Ich sage dazu mittlerweile nichts mehr, denn wenn ich ihnen erkläre, dass es auf längere Zeit alles andere als süß ist, können sie sich das nicht vorstellen.
Ich habe, denke ich eine sehr besondere und spezielle Beziehung zu ihm, vielleicht gerade durch seine Behinderung. Es beschäftigt mich, dass er unter dem FraX vielleicht sogar leidet. Ich würde ihm auch wünschen, dass er so aufwachsen könnte, wie jeder andere, aber nicht nur ihm sondern auch meinen Eltern und mir. Es ist nämlich nicht immer so einfach. Er hat zum Beispiel nicht viele Freunde und das ist weder für ihn noch für uns schön.
Deshalb besuche ich gerne Seminare, die Marlies Winkelheide für Geschwister von behinderten Menschen und ihre Familien leitet. Auf den Geschwisterseminaren werden die Situationen von uns Geschwistern besonders besprochen. Ich treffe dort nicht nur meine Freunde sondern auch Menschen, die das Gleiche wie ich erlebt haben. Mir hilft es sehr dort mit den anderen über meine Ängste aber auch über die schönen Dinge zu reden. Ich fühle mich dort immer wie in einer großen Familie, in der alle zusammen halten! Wenn ich dort bin, fragt mein Bruder oft nach mir und wann ich wieder nach Haus komme. Daran sieht man schon, dass wir uns gegenseitig brauchen.
An meinem Bruder mag ich besonders sein Lachen. Er kann tolle Späße machen und steckt uns alle damit an. Ich habe ihn einfach ganz schrecklich lieb!”
(Marleen, 14 Jahre)
- “Wir sind die Geschwister von Kindern mit FraX.
WIR HABEN AUCH WAS ZU SAGEN!!!!
Oft stehen wir als die Vernünftigen da. Aber wollen wir das auch? Nein! Wir wollen genauso wichtig behandelt werden wie unsere Geschwister.
Unser Wunsch wäre es, dass wir uns nicht an unsere Eltern anpassen müssen, sondern dass sie sich auch mal an uns orientieren. Zum Beispiel, wenn wir Zeit zum Reden brauchen, ohne darauf warten zu müsse bis unsere Geschwister zufrieden gestellt worden sind.
Wenn wir mal einen Wunsch haben, solle dieser nur uns erfüllt werden und nicht gleich unseren Geschwistern mit.
Genauso ist es mit den Regeln. Es wäre schön, wenn es Regeln gibt, die für uns alle gelten und nicht für unsere Geschwister geändert oder gar außer Kraft gesetzt werden.
In euren Augen sind wir immer die Starken, die alles aushalten können, dies ist aber nicht immer so!
Wenn uns etwas bedrückt, ziehen wir uns zurück und zeigen Wut oder Trauer nicht, da wir unseren Eltern nicht noch mehr Sorgen machen wollen.
Bitte versteht uns nicht falsch! Wir wollen nicht 10mal am Tag gefragt werden ob es uns gut geht, sondern dann gehört werden, wenn wir etwas zu sagen haben!”
(Geschwisterseminar 03. – 05.10.2014 der Interessengemeinschaft Fragiles X e.V., Bad Salzdetfurth, Leitung: Marlies Winkelheide)
Fragen und Antworten
Testen ja oder nein?
Im Zuge der Diagnosefindung für das betroffene Kind stellt sich innerhalb der Familie auch die Frage nach der genetischen Disposition der anderen Familienmitglieder, besonders die der Geschwisterkinder. Eltern müssen sich der Frage stellen, ob und wann sie auch die Geschwisterkinder testen lassen wollen. Gemäß dem Gendiagnostikgesetz (GenDG, Inkrafttreten am 01.02.2010) gilt das Prinzip der informellen Selbstbestimmung. Damit leitet sich sowohl das Recht auf die Kenntnis der eigenen Disposition als auch das Recht auf Nichtwissen der Befunde her.
In jedem Fall sollten sich betroffene Familien in einer humangenetischen Praxis auch in Bezug auf Fragen der informellen Selbstbestimmung beraten lassen.
Wie sag ich’s meinem Kind?
Die Frage, wann und wie man mit Geschwisterkindern über die Behinderung des Bruders/der Schwester spricht, muss jede Familie für sich selbst beantworten. Einen Königsweg gibt es ohne Frage nicht – alles hängt wesentlich von der individuellen familiären Situation ab. Wichtig ist, dass Kinder mit ihren Gefühlen und Ängsten nicht allein sind.
Vielleicht kann es hilfreich sein, sich in Familienberatungszentren vor Ort, beim Kinderarzt oder bei Therapeuten professionelle Unterstützung zu holen.