Es gibt viele Arten von Freundschaft. Manche Freunde finden sich, weil sie die gleichen Interessen haben. Manchmal sind Freunde auch so unterschiedlich, dass Außenstehende sich gar keinen Reim auf dies Beziehung machen können. Manchmal finden Freunde in ihrer Peergruppe zusammen, manchmal liegt eine große Altersspanne zwischen ihnen oder ihre Lebenssituation unterscheidet sich deutlich. Alle Arten von Freundschaft gibt es auch bei Menschen mit Fragilem-X Syndrom (kurz FraX).
Die Mehrheit der Betroffenen besitzt einen untrüglichen Sinn für Menschen, die es ehrlich mit ihnen meinen. Auf ihre Menschenkenntnis können sie sich verlassen. Viele Freundschaften bestehen über einen langen Zeitraum. Die Betroffenen profitieren oft sehr davon. Gerade für Menschen mit FraX gilt, gemeinsam meistert sich eine schwierige Situation leichter. Ein enger Freund, dem sie vertrauen “zieht” sie oft regelrecht über ihre sozialen Hemmschwellen hinweg. Auch als Freunde sind die Betroffenen beliebt. Oft hören wir, wie gern die Betroffenen bei Anderen gesehen sind, weil sie so fürsorglich, mitfühlend und lustig sind. Gerade andere Menschen mit Beeinträchtigung schätzen diese Wesensmerkmale oft sehr.
Eine spontane Zuneigung fassen und sich anfreunden wollen, das ist für Menschen mit FraX leicht. Dem Wunsch Taten folgen zu lassen, das kann zum Problem werden. Es fängt damit an, dass sie oft nicht einmal direkt ihren Eltern oder anderen Betreuungspersonen von ihrem Interesse berichten können. Typisch für sie sind eher versteckte Andeutungen, sie lassen einen Namen öfter mal fallen oder suchen verstärkt Orte auf, wo sie dem möglichen Freund oder der Freundin nahe sein können. Treffen sie den Erhofften dann zufällig nicht an, ist der Frust schnell groß. Hier ist wieder einmal eine gute Beobachtungsgabe der Betreuungsperson gefragt. Es gilt die Ursache für eine mögliche Krise zu erkennen und die Chance für das knüpfen einer Freundschaft zu nutzen.
Eine Freundschaft allein anzubahnen – und zu erhalten – fällt vielen Kindern und Jugendlichen mit FraX schwer. Dies mag einerseits daran liegen, dass es ihnen oft nicht gelingt, ihre Gefühle auszudrücken. Ihr Gegenüber erkennt nicht, dass Ihr Kind gerade versucht, Kontakt aufzunehmen, weil es eine andere (Körper-) Sprache spricht, Blickkontakt vermeidet, sich zunächst zurückhaltend verhält. Auch herausforderndes Verhalten gepaart mit bzw. bedingt durch die Angst, etwas verkehrt machen zu können, ist nicht gerade ein verstehbarer Impuls, der es anderen nichtbehinderten Kindern leichter macht, Kontakt zu suchen. Das Kind mit FraX erfährt Ablehnung und/oder Ausgrenzung – eine gerade für Eltern schwer auszuhaltende und belastende Situation. Unterstützen Sie Ihr Kind beim Kontakt zu anderen Kindern. Versuchen Sie zu vermitteln, bei älteren Kinder auch zu erklären, warum sich Ihr Kind manchmal anders verhält als andere und wie sie als Freunde am besten damit umgehen können. Bringen Sie sich selbst mit ins Spiel ein, schlagen Sie gemeinsame Unternehmungen und Aktionen vor und schaffen positive Erlebnisse – aber auch nur, wenn Ihr Kind den Wunsch nach Kontakt hat, zeigt oder äußert.
Der Wunsch nach Normalität und die Übertragung der eigenen Wünsche und Vorstellungen bezüglich der Wichtigkeit von Freundschaft bei Eltern ist verständlich. Auf der anderen Seite empfindet Ihr Kind vielleicht ganz anders. Viele Kinder mit FraX beschäftigen sich am liebsten mit sich selbst. Sie wollen nicht immer “hinter dem Ofen hervorgelockt” werden, zu viele soziale Kontakte verwirren und überfordern sie. Geben Sie diesem Bedürfnis nach und lassen Sie Ihrem Kind den Rückzugs-Freiraum, den es braucht – erzwingen Sie nichts.
Anders sieht es aus, wenn Sie deutlich spüren, dass Ihr Kind gerne ein anderes Kind als Freund oder Freundin hätte und auf der anderen Seite wenig oder kein Interesse besteht. Gerade FraX-Mädchen suchen sich als “Wahlfreunde” oft diejenigen aus, die quasi unerreichbar für sie sind – der 20 Jahre ältere Busfahrer, der Lehrer, der attraktive Klassencasanova, auf den alle Mädchen stehen. Die Ablehnung, die sie dann meist erfahren, tut nicht nur den Eltern weh, sondern natürlich auch Ihrem Kind. Bedenken Sie, dass Ablehnung und die daraus folgende Frustration zu jedem Leben dazu gehören. Auch Kinder ohne Behinderung machen diese Erfahrungen. Derartige Lebenserfahrungen lassen Kinder innerlich wachsen und sind nicht zwingend nur durch das FraX bedingt. Entscheidender ist, wie die Bezugspersonen diese Enttäuschungen auffangen und altersgemäß begleiten. Berücksichtigen Sie dabei, die emotionale Reife der Betroffenen entspricht meist nicht ihrem Lebensalter. Besonders ein männlicher Erwachsener mit FraX, ist oft noch auf der emotionalen Entwicklungsstufe eines Kindes. Mädchen und Frauen sind meist weiter in ihrer Entwicklung, aber auch diese sind vor allem in jungen Jahren noch nicht auf der gleichen Stufe, wie gleichaltrige ohne Behinderung.
FraX-Kinder mit Geschwistern können sich glücklich schätzen – oft sind der Bruder oder die Schwester die besten Freunde und werden auch als solche gesehen und bezeichnet. Unter Geschwistern kann es dadurch auch zu Konflikten kommen. Nicht immer möchten die Geschwisterkinder derartig mit Beschlag belegt werden. Die Geschwisterkinder brauchen Raum für eigene Freundschaften ohne den Bruder oder die Schwester mit FraX. Eltern sind hier in besonderer Weise gefordert, die freie und gesunde Entwicklung aller Kinder in der Familie zu ermöglichen. Auch Eltern und Großeltern können Freunde sein – aber nicht immer, nicht in allen Fällen und Situationen.
Um die Lücke zu schließen und gemeinsame Aktivitäten unter Freunden zu ermöglichen, kann man auch darüber nachdenken, eine Unterstützungsperson über einen familienentlastenden Dienst zu organisieren (im Rahmen der Pflegeversicherung ist hier sogar eine Kostenübernahme möglich) bzw. einen bezahlten privat organisierten Freizeitbegleiter. Menschen mit Behinderung haben auch im Bereich Freizeit ein Recht auf Teilhabe. Versäumen Sie nicht, die dafür zur Verfügung stehenden Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen.
Ihr Kind wird den Unterschied zwischen einer echten Freundschaft und einer professionellen Dienstleistung vermutlich nicht wahrnehmen. Vor allem, wenn Sie einen Betreuer finden, der sich ohne zu murren auf alle zunächst verrückt erscheinenden Freizeitgestaltungswünsche wie gemeinsames S-Bahn-Fahren, Steine in den See werfen oder im Kaufhaus Make-up ausprobieren, einlässt! Jetzt mag man denken, wo ist das Problem, das Ziel, dem Kind eine aktive Freizeit mit freundschaftlicher Begleitung zu ermöglichen, ist erreicht. Versuchen Sie sich in die Lage des Menschen mit FraX hineinzuversetzen. Der wähnt sich glücklich, endlich einen Freund zu haben. Wird das Arbeitsverhältnis beendet, erlebt er dies als Beziehungsabbruch und es fühlt sich an wie verlassen werden. Da Assistenzdienste häufig von studentischen Aushilfskräften angeboten werden, ist keine verlässliche Aussage über die Dauer der Begleitung möglich, Betreuer verschwinden oft sogar ohne Abschied vom Kind. Der Mensch mit FraX bezieht die Gründe für das Ende der Begleitung verständlicherweise auf sich. Er nimmt es-zu recht-persönlich, wenn er in der Annahme war, es handelte sich um Freundschaft.
Ermöglichen Sie ihrem Kind die Begleitung durch Assistenzkräfte, aber vermitteln Sie ihm den Unterschied zwischen Freundschaft und Dienstleistung. Die meisten Menschen mit FraX werden Zeit ihres Lebens auf Betreuung und Unterstützung angewiesen sein. Es ist deshalb wichtig, von Anfang an klar zu stellen, was echte Beziehungen und was Arbeitsaufträge sind. Der Auftrag an die Assistenzgeber ist nicht Freund oder Freundin zu sein, sondern die Anbahnung von Freundschaft zu fördern und durch Begleitung zu unterstützen. Es gibt ein breites Angebot an Freizeitaktivitäten, die den Betroffenen Kontaktmöglichkeiten schaffen. Seien Sie zuversichtlich, bei dem liebenswerten Wesen der Menschen mit FraX, wird es ihnen an Zuneigung und Freundschaft im Leben nicht mangeln.