Auch wenn es bislang keine kausale Therapie gibt, so kann man den betroffenen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Fragilem-X (kurz FraX) sowie ihren Familien doch durch diverse Fördermaßnahmen, geeignete Umfeldbedingungen, entsprechende Erziehung sowie unterschiedliche symptomatische Therapien helfen, ihren Alltag besser zu bewältigen. Neben den bekannten pädagogischen Maßnahmen, die immer die Basis zur Förderung der Entwicklung und Verbesserung vorhandener Defizite sein sollte, kann es im Einzelfall hilfreich sein, auch medikamentöse Maßnahmen (vorübergehend) einzusetzen. Betont werden muss hier, dass es „DAS“ Medikament gegen FraX leider nicht gibt, auch wenn in der Vergangenheit von mehreren Firmen – leider bisher ohne durchschlagenden Erfolg – daran geforscht wurde. Zum Einsatz kommen daher – nach gründlichem Abwägen und in der Hand erfahrener Mediziner – nur Medikamente, die für andere Indikationen / Krankheiten in Deutschland zugelassen sind.
Weitere Informationen finden Sie unten in den Fragen & Antworten. Wir danken Frau Dr. Britta Unger und Herrn Dr. Gottfried Maria Barth für ihre Mitarbeit und Auskunft!
Fragen und Antworten
Gibt es nicht-medikamentöse Behandlungsoptionen?
Folgende Förderungen sind unbedingt lohnswert und zu empfehlen:
- Unterstützung der Familien durch behandelnde Ärzte und Therapeuten
- Intensive Förderung – bei Frauen Abitur möglich!
- Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie, alternative Therapieformen
- Soziales Training
- Schulische Integration
- Berufliche Integration
- Einfühlsame Begleitung von Trennungsprozessen
Es gibt Hinweise auf eine sehr gute Wirksamkeit von Placebos – auch diese Option der „Therapie“ sollte mit dem behandelndem Arzt im Einzelfall besprochen werden.
Nicht „Psychopharmakotherapie“ sondern „therapieunterstützende Psychopharmakagabe“! (Empfehlung von Dr. Gottfried Maria Barth, UK-Tübingen)
Medikamente - ja oder nein?
Größere Studien liegen u.a. aufgrund der Seltenheit von FraX leider so gut wie nicht vor, es gibt jedoch gewisse Erfahrungswerte von Ärzten, die eine größere Zahl von Patienten mit FraX behandeln. Trotz vieler Ähnlichkeiten hinsichtlich der Symptome, die Patienten mit FraX zeigen, muss doch immer sehr individuell entschieden werden, ob die Situation tatsächlich den Einsatz eines Medikaments rechtfertigt bzw. ob mit einem Medikament eine wirkliche Verbesserung erzielt werden kann unter Abwägung möglicher Risiken und Nebenwirkungen. Meist handelt es sich hier um einen off-label-use, d.h. die Anwendung eines Medikaments, welches zur Behandlung einer anderen Erkrankung und z.T. auch nur für ein abweichendes Patientenalter zugelassen ist, so dass hier auch arzthaftungsrechtliche Aspekte berücksichtigt werden müssen.
Welche Besonderheiten gelten bei der Medikamenteneinnahme bei Kindern mit FraX?
Entwicklungsprozesse beeinflussen die Wirksamkeit und den Stoffwechsel von Medikamenten. Die Anzahl und die Verteilung von Rezeptoren im Gehirn ändert sich im Laufe des Lebens. Der Abbau von Medikamenten geschieht bei Kindern in der Regel schneller. Sie können manchmal höhere, manchmal niedrigere Dosen an Medikamenten vertragen als Erwachsene und benötigen oft die gleiche Dosis für eine ausreichende Wirkung. Die Mitarbeit bei Einnahme etc. ändert sich altersabhängig. Ernährungsgewohnheiten und Genussgifte beeinflussen die Medikamentenaufnahme und den -stoffwechsel. Auch die altersabhängige Fett- und Muskelverteilung beeinflusst Wirksamkeit von Medikamenten.
Bei Kindern und Erwachsenen mit FraX ist diese Problematik noch verstärkt. Es ist nicht voraussagbar, welche Dosis für sie die richtige sein wird. Häufig genügen ganz geringe Dosen, um die erwünschte Wirkung zu erreichen. Häufig können bereits ganz geringgradige Dosisänderungen erhebliche Änderungen der Wirkung oder der auftretenden Nebenwirkungen hervorrufen. Nicht selten bestehen Empfindlichkeiten gegenüber bestimmten Darreichungsformen.
Viele Patienten mit FraX fällt es nicht leicht, über ihre eigene Befindlichkeit zu berichten und damit auch nicht leicht, detailliert über die Wirkung ihrer Medikamente zu berichten. Deshalb hat die Beobachtung durch die Angehörigen oder andere betreuende Personen eine besondere Bedeutung. Es ist dabei wichtig, die Beobachtungen aus verschiedenen Lebensbereichen einzubeziehen.
Die Identifizierung von Nebenwirkungen kann ebenfalls erschwert sein. Es besteht ein Risiko, dass gravierende Nebenwirkungen ü̈bersehen werden oder dass in Einzelfällen auch fälschlich Nebenwirkungen zugeschrieben werden. Häufig legen sich bei Psychopharmaka initiale Nebenwirkungen im Verlauf der Behandlung – was Geduld erfordert.
Es ist ein engmaschiges Monitoring der Wirkungen und Nebenwirkungen und Einbeziehung der betreuenden Bezugspersonen notwendig. Bei Kindern und Jugendlichen sollte in der Regel ein Monitoring der Blutplasmaspiegel des Medikaments erfolgen. Ein vorsichtiges Titrieren sollte zur individuell geeigneten Dosis führen.
Starke Unruhe/ADHS - medikamentös behandelbar?
Bei meisten Erfahrungen dürften hier mit Stimulantien gemacht worden sein. Hierzu zählen u.a. die Wirkstoffe Methylphenidat (MPH) und Amphetamine (z.B. Ritalin / Medikinet, Equasym/Concerta, D-L-Amehetaminsaft NRF / Attentin / Elvanse). Verwendung finden sie bei FraX im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzepts bei den typischen ADHS-Symptomen, die bei den meisten Kindern mit FraX – in unterschiedlich starker Ausprägung – zu finden sind. Bei jüngeren Kindern kann hierunter oft auch innerhalb kurzer Zeit eine zufrieden stellende Kontrolle bei unzureichender Kontrolle der Ausscheidungsfunktionen erreicht werden. Die Kinder haben teilweise auch erst unter dieser Medikation die Chance, ihre vorhandenen kognitiven Fähigkeiten zu nutzen und sinnvoll einzusetzen. Auch gelingt bei manchen die soziale Integration erst mit medikamentöser Unterstützung. Zu beachten ist hierbei, dass sehr oft schon eine äußerst niedrige Dosis ausreicht. Unter MPH kann es dabei eher mal zu psychischer Destabilisierung kommen, die sowohl in Niedergeschlagenheit als auch Aggressionen enden kann. Bei Amphetaminen scheint das deutlich seltener vorzukommen, so dass sich u.U. ein Umstellungsversuch lohnen kann.
Bei stark ausgeprägten Unruhezuständen oder anders nicht in den Griff zu bekommender Eigen- oder Fremdgefährdung kann auch in Ausnahmefällen der Einsatz von Risperidon (z.B. Risperdal), einem Neuroleptikum, erwogen werden. Auch hier ist eine sehr vorsichtige Aufdosierung dringend zu empfehlen.
Relativ großzügig eingesetzt wird dagegen – auch schon bei jungen Kindern – u.a. auch von mehreren SPZ´s der Wirkstoff Melatonin (z.B. Circadin) zur Behandlung ausgeprägter Ein- und Durchschlafstörungen. Ein zusätzlicher Benefit könnte zusätzlich in der – auch bei FraX unterstellten – neuroprotektiven Wirkung liegen. Es scheint bei dieser Substanz ebenso wenig wie bei den Stimulantien zu einem Wirkverlust oder einer Gewöhnung im Lauf der Zeit zu kommen.
Versuchsweise bei Kindern / Jugendlichen mit FraX eingesetzt wurde auch Memantine (z.B. Ebixa), ein NMDA Antagonist (Glutamatantagonist), mit dem in früheren Jahren bei Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten / ADHS gute Effekte erzielt wurden, da die Selbststeuerung und Konzentrationsfähigkeit verbessert wurden. ADHS-Experten setzten den Wirkstoff auch bei (erwachsenen) ADHS Patienten mit gutem Erfolg ein, die Reizüberempfindlichkeit, Impulskontrolle und affektive Labilität besserten sich z.T. deutlich. Nach Aussagen der Pharmafirma ist auch mit einer neuroprotektiven Wirkung zu rechnen. Anhaltende neuroanatomische oder neurobiologische Veränderungen entstehen nicht. Effekte sind auf die Dauer der Einnahme beschränkt. Es ist nicht mit einer Gewöhnung (oder Abhängigkeit) zu rechnen.
Gibt es Medikamente "speziell" für FraX-Mädchen-Problematiken?
Vorzugsweise bei Mädchen mit Vollmutation und ausgeprägten Ängsten, sozialer Phobie, Depressionen oder Zwängen haben sich SSRI (z.B. Sertralin, Citalopram/Escitalopram) sowie SSRI/SNRI (z.B. Venlafaxin) als hilfreich erwiesen. Letztere können sich u.U. auch positiv auf Konzentration und Aufmerksamkeit auswirken.
Gibt es Medikamente gegen Inkontinenzstörungen?
In Einzelfällen konnte unter einer sehr niedrigen Dosis Sertralin bei Jungs mit Vollmutation offenbar eine bessere Wahrnehmung und Kontrolle der Ausscheidungsfunktionen erzielt werden. Diese Beobachtung könnte sich aus dem Umstand erklären, dass auch ein SSRI/SNRI (Duloxetin), auf dem Markt ist (z.B. Yentreve), welches zur Behandlung von Belastungsinkontinenz zugelassen ist. Man geht davon aus, dass durch die SSRI/SNRI-Wirkung die Fähigkeit zur Anspannung des Sphinktermuskels gesteigert wird.
Bei extremen Wahrnehmungsstörungen (Kind spürt nicht, dass die Blase voll ist) kann ein Medikament die anderen aufgezeigten Methoden ergänzen oder unterstützen. Es ist sicher nicht so, dass man das Medikament gibt und das Kind dann weiß, was es tun soll. Weitere Informationen zum Thema Sauberkeitserziehung finden Sie hier.
Einige Kinder mit FraX haben auch eine „nervöse“ oder „überaktive“ Blase, die sich einfach nicht ausreichend entspannen kann, um ein ausreichendes Füllungsvolumen zu erreichen. Die Folgen sind unkontrolliertes und/oder sehr häufiges Wasserlassen. Bei diesen Kindern kann es – nach gründlicher fachärztlicher Abklärung – hilfreich sein, Mictonetten (Wirkstoff Propiverin) einzusetzen. Dieses Medikament, ein Blasenspasmolytikum, hemmt die Anspannung des Blasenmuskels (Detrusor) und erhöht so die Speicherkapazität der Harnblase. Es lohnt sich auch, auf eine regelmäßige Entleerung des Darms zu achten (gesunde Ernährung, genug trinken, in Ruhe regelmäßig auf Toilette), da ein übervoller Darm auch eine Harninkontinenz begünstigen kann.
Aufmerksamkeit, Sprachentwicklung, soz. Kommunikation - medikamentös verbesserbar?
Widersprüchliche Ergebnisse finden sich zu der Wirkung von Minocyclin bei Kindern mit FraX. Studien aus früheren Jahren (2008-2010) verliefen zunächst viel versprechend, da insbesondere bei Kindern unter 8 Jahren Verbesserungen in den Bereichen Aufmerksamkeit, Spracheentwicklung und soziale Kommunikation gesehen wurden. Vorangegangen waren Studien am Mausmodell (FX-KO-Maus), die unter Minocyclingabe ab Geburt (!) neben einer „normnahen“ Dendritenentwicklung auch damit verbundene „Normalisierungen“ im Verhalten und der Lernfähigkeit der Tiere ergaben. In den Folgejahren konnten die positiven Effekte bei Menschen mit FraX im Rahmen von Studien leider nicht im erhofften Ausmaß bestätigt werden. Es gibt aber Einzelbeobachtungen, nach denen betroffene Kinder / Jugendliche doch soweit von einer Gabe profitieren, dass Verbesserungen in den o.g. Bereichen von Außenstehenden festgestellt werden, die von einer Gabe gar nichts wissen bzw. Verschlechterungen i.R. eines Auslassversuchs (Einnahmepause) gesehen werden. Eine in den früheren Studien beobachtete relativ hohe Rate von gastrointestinalen Nebenwirkungen (7-15%) sollte bedacht werden. Auch die Verabreichung von Stimulanzien und Antidepressiva kann in Erwägung gezogen werden.
In ausgewählten Einzelfällen kann – insbesondere bei älteren (prä-/post-)pubertären Jungen mit FraX – eine Behandlung mit Neuroleptika angezeigt sein. Erfahrungen bestehen hier mit dem Wirkstoff Aripiprazol (z.B. Abilify), der sich insbesondere bei Auftreten von psychotischen Symptomen oder einer bipolaren Störung bewährt hat.
Welche Rolle kann der Placebo-Effekt spielen?
Interessanterweise wurde festgestellt, dass nicht nur (natürlich) auch Familien mit Kindern, die von FraX betroffen sind, einem gewissen Placeboeffekt erliegen, sondern darüberhinaus, dass Placebo sogar dann noch hilft, wenn offen gelegt wird, dass es verabreicht wird. Dieser Effekt sollte daher bei jedem Versuch einer medikamentösen Unterstützung bedacht werden.
Helfen Nahrungsergänzungsmittel oder homöopathische Mittel?
Viele Eltern berichten auch von sichtbaren Verbesserungen unter homöopathischer Behandlung oder bei der Gabe von Nahrungsergänzungsmitteln (z.B. Omega-3-Fettsäuren, Zink, Magnesium, Vitaminen). Ob diese Behandlungsoptionen nun tatsächlich wirken oder durch ein Zusammenspiel mit einem gewissen Placeboeffekt oder einem entspannteren Familienklima in der positiven Erwartung einer Wirkung zustande kommen, sei dahingestellt. Ein größerer Schaden wird hierdurch relativ sicher nicht entstehen.
Gibt es pflanzliche Psychopharmaka, die sich positiv auf Verhaltensstörungen bei Menschen mit FraX auswirken können?
Vorab sei bemerkt: Nur, weil pflanzlich, heißt das nicht, dass nicht Nebenwirkungen auftreten können! Im Gegenteil: Keine Wirkung ohne Nebenwirkung. Einige Präparate haben sich als sogenannte „Phytopharmaka mit psychotroper Wirkung“ bewährt. Bitte lassen Sie sich von Ihrem Arzt oder Heilpraktiker beraten.
Kava-Kava (Rauschpfeffer):
evtl. serotonerge Wirkung, bei Angst- und Spannungszuständen, Antriebsarmut, Dysphorie, Konzentrations- und Leistungsschwäche Nicht in der Schwangerschaft, vor allem in den ersten drei Monaten, nicht in der Stillzeit oder bei endogenen Depressionen!
Johanniskraut:
evtl. monoaminooxydasehemmend, bei depressiver Verstimmung, Angst- und Spannungszuständen, psychovegetativen Störungen. Gefahr der Photosensibilisierung bei hellhäutigen Personen
Baldrian:
bei nervöder Unruhe und Einschlafstörungen. Nur Valeriana officinalis, mexikanischer Baldrian evtl. zelltoxisch!
Hopfen:
bei Schlafstörungen, Nervosität, Erregung
Melissenblätter:
leicht dämpfend und damit beruhigend bei nervös bedingten Einschlafstörungen
Passionsblumenkraut:
Wirkung nicht gesichert, bei nervösen Unruhezuständen
Lavendel, indische Narde, virginischer Wolfsfuß:
beruhigend, affektiv entspannend
weitere traditionell angewandte:
Zitronenmelisse, Rosmarin, Salbei, Kamille, Pfefferminze,
Quendel, Weißdorn, …
Kombinationspräparate:
Kava-Kava + Johanniskraut*
Johanniskraut + Rauwolfiaextrakt
Johanniskraut, Baldrian, Passionsblume, Lerchenspornwurzel,
Eschscholzienkraut
Johanniskraut + Baldrian
Baldrian + Hopfen
*Johanniskraut kann den Abbau anderer Medikamente stark beeinflussen, u.a. Antiepileptika und die Pille. Nicht nach 16.00 geben, sonst drohen Schlafstörungen.
Was sollte bei Narkosen (einschl. Prämedikation) berücksichtigt werden?
Bei Patienten mit Vollmutation, die sich z.B. einem zahnärztlichen Eingriff unterziehen müssen (kann bei dieser Personengruppe ggf. auch schon notwendig werden i.R. einer Zahnreinigung), hat sich die Gabe von Propofol gut bewährt. Bezodiazepine hingegen wirken häufig paradox, was große Probleme nach sich ziehen kann! Daher wird vor Eingriffen in Vollnarkose oft gänzlich auf eine Prämedikation verzichtet. Informieren Sie den Anästhesisten über diese Besonderheit, wenn bei Ihrem Kind eine Narkose ansteht.
Was gibt es bei der Einnahme von Psychopharmaka zu bedenken?
Alle Psychopharmaka haben Nebenwirkungen. Akute Nebenwirkungen können frühzeitig erkannt werden und eine schnelle Reaktion/Absetzen des Medikamentes ist möglich. Einige Nebenwirkungen, z.B. Spätdyskinesien oder Stoffwechselstörungen können sich chronisch manifestieren, werden oft erst im Nachhinein erkannt, so dass eine Vermeidung der Nebenwirkungen nicht mehr möglich ist. Sowohl die Wirkungen als auch die Nebenwirkungen des gleichen Wirkstoffes sind von Patient zu Patient individuell verschieden. Damit kann die Kosten-Nutzen-Abwägung nur individuell erfolgen.
Voraussagen zu Wirkungen und Nebenwirkungen sind unsicher. Jede Behandlung mit einem Psychopharmakon ist ein individueller Versuch.