Da der Gendefekt im Allgemeinen nur auf einem der beiden X-Chromosomen lokalisiert ist, kann der Schweregrad der kognitiven Beeinträchtigung bei Mädchen zwischen normaler Leistung, Teilleistungsschwächen (Mathematik), Lernbehinderung oder auch geistiger Behinderung stark variieren. Diese doch erhebliche Spannweite ist bedingt durch die physiologische X-Inaktivierung bei allen weiblichen Individuen. Je nachdem, ob überwiegend das defekte mütterliche X-Chromosom in weiten Bereichen des Gehirns aktiv ist oder das gesunde väterliche X-Chromosom, sind die intellektuellen Leistungen mehr oder weniger beeinträchtigt. Sehr häufig finden sich bei Mädchen mit FXS – unabhängig von den kognitiven Fähigkeiten – psychische Auffälligkeiten in Form von Ängsten, Selbstwertproblematik, sozialer Unsicherheit, ausgeprägter Schüchternheit, Blickkontaktvermeidung, Rückzugstendenzen, autistischen Zügen, gelegentlich Depressionen. Konzentrations- und Aufmerksamkeitsprobleme treten überwiegend als ADS (ohne Hyperaktivität) auf. Viele der Mädchen verfügen über ein sehr gutes Einfühlungsvermögen, sind sehr empfindsam, haben aber auch eine niedrige Frustrationstoleranz und beginnen sehr schnell zu weinen. Durch ihre oft zu beobachtende Naivität werden sie leicht zu Mobbingopfern. Körperlich fällt bei Mädchen (wie bei Jungs) häufig ein schwaches Bindegewebe mit statischen Problemen (Plattfüße, Skoliose) auf. In einem Teil der Fälle beobachtet man eine mehr oder weniger ausgeprägte allgemeine Entwicklungsverzögerung (meist geringer als bei den Jungs), die Sprachentwicklung kann gelegentlich, aber dann meistens nur in geringerem Ausmaß, beeinträchtigt sein.
Häufig vorkommende Besonderheiten bei Mädchen:
- Rechenschwäche, Dyskalkulie, Probleme im logischen denken, Umgang mit Geld
- Aufmerksamkeitsstörungen (ADS)
- Niedrige Frustrationstoleranz
- Extreme Schüchternheit, vor allem in neuen Situationen oder unbekannten Menschen
- Geringes Selbstwertgefühl, soziale Unsicherheit, Depressionen und Rückzugstendenz
- Naivität (Mobbingrisiko)
- Besondere Empfindsamkeit / gutes Einfühlungsvermögen
Mädchen sind anders betroffen als Jungen, vor allen Dingen viel unterschiedlicher, da Mädchen zwei X-Chromosomen besitzen, also zusätzlich zu dem fragilen noch ein intaktes X-Chromosom. Bei Mädchen wird in jeder ihrer Körperzellen ein X-Chromosom stillgelegt. Es ist reiner Zufall, ob das betroffene oder das gesunde X-Chromosom abgestellt wird, so dass bei einem Mädchen in 80 % ihrer Körperzellen das intakte X-Chromosom aktiv sein kann. Dieses Mädchen wäre wenig betroffen. Wenn aber umgekehrt in 80% der Körperzellen das betroffene X-Chromosom aktiv ist, so ist dieses Mädchen dann viel schwerer vom FraX betroffen.
Diese Varianten machen sich im äußeren Erscheinungsbild, im Verhalten und in den kognitiven Fähigkeiten bemerkbar.
Ein leicht betroffenes Mädchen hat vielleicht nur Probleme mit der Mathematik, da diese kognitive Fähigkeit am häufigsten als Erstes ausfällt. Eventuell zeigt sie grobmotorische Züge beim Laufen oder leicht autistisches Verhalten. Meist kommen solche Kinder gut durch die Schule.
Problematischer wird es mit den mittelschwer betroffenen Mädchen. Äußerlich zeigen auch sie keine Auffälligkeiten, so dass ihre Probleme häufig erst in der Schule auftauchen. Die Ausfälle im mathematischen Verständnis werden meist früh erkannt, es können auch Probleme beim Schreiben und Lesen auftreten. Wegen der autistischen Züge und der häufigen Überreizbarkeit leiden sie sowohl an den Anforderungen der Schule, als auch unter Mobbing der Klassenkameraden. Spätestens nach dem 4. Schuljahr stellt sich die Frage: Wohin mit meinem Kind? Irgendwie passt so ein betroffenes Mädchen in keine der angebotenen Schulen. Hier hilft nur: sich Schlaumachen über alle Schulen im Angebot bzw. Umkreis und aus dem Bauch heraus entscheiden.
Schwer betroffene Mädchen gleichen den betroffenen Jungen im Aussehen, Verhalten und den kognitiven Fähigkeiten. Kindergarten, Schule – alles muß entsprechend ihren speziellen Bedürfnissen ausgewählt werden. Förderschulen können hervorragende Arbeit leisten, aber bei einem ruhigem Kind ist eine integrative Beschulung sicherlich auch zu überlegen. Trotz aller Bemühungen erlernen schwer betroffene Mädchen nicht immer das Lesen und Schreiben. So bleibt nach der Schule meist keine andere Wahl als der Übergang in eine betreuende Werkstatt. Moderne Werkstätten testen die Fähigkeiten der Kinder aus. Es kann auch sein, dass ein Mädchen dann nach sorgfältiger Überprüfung in eine leichte Tätigkeit im 1. Arbeitsmarkt vermittelt wird, durchaus auch mit Begleitung durch die Werkstatt.
Weiterführender Link (Marcia Braden on Behavior, in englisch): http://marciabraden.com/MB/media/MarciaBraden/Resources/Braden-on-Behavior-2012.pdf
Fragen und Antworten
Wie kommen Mädchen in der Schule zurecht?
Ein Regelschulabschluss ist für viele Mädchen möglich. Es gibt einige mit einem guten Haupt- oder auch Realschulabschluss. Dieser Erfolg setzt jedoch, vor allem in den höheren Klassen eine gute Zusammenarbeit von Schule und Elternhaus voraus. Frühzeitige Förderung der individuellen Stärken und Unterstützung der schwächeren Fächer, vor allem in Mathematik, kann zu guten Ergebnissen führen. Übungen zur Stärkung der Alltagskompetenz und eine wertschätzende, die Persönlichkeitsentfaltung fördernde Haltung bereiten gut auf die Anforderungen im späteren Leben vor.
Manchmal kann es hilfreich sein, wenn sich an die schulische Ausbildung noch ein Jahr in einer Berufsbildungseinrichtung anschließt. Dort wird durch die Vermittlung berufsrelevanter Grundkenntnisse in den Kulturtechniken und die Stärkung sozialer Kompetenzen, wie Pünktlichkeit, Ausdauer und Zuverlässigkeit gezielt auf das Berufsleben vorbereitet.
Welche Berufe haben sich "bewährt"?
Frauen mit FraX sind sehr freundlich, hilfsbereit und sozial, daher sind viele Betroffene in pflegerischen Berufen zu finden. In Kindertages- oder Senioreneinrichtungen wird ihre liebevolle Art sehr geschätzt. Ebenso finden sie Freude an hauswirtschaftlichen Tätigkeiten, arbeiten in der Gastronomie oder in Großküchen. Überall ist es wichtig, den Tages- und Tätigkeitsablauf gut zu strukturieren. Es ist für sie nicht einfach, unter Zeitdruck und Hektik die gestellten Aufgaben zu erfüllen und Zeitpläne einzuhalten. Durch ihre soziale Scheu und Schüchternheit fällt es ihnen schwer, sich gegen Ungerechtigkeiten zu wehren und sie nehmen oftmals schlechtere Dienstzeiten oder ungeliebte Tätigkeiten an. Sie trauen sich nicht, ihre Interessen mitzuteilen. Hier braucht es verständnisvolle Vorgesetzte, die die besonderen Bedürfnisse erkennen und die Frauen anleiten und unterstützen.
Für Männer mit FraX scheint der Weg meist vorgezeichnet, Frauen fällt es oft nicht so leicht, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. In beschützenden Werkstätten sind sie unterfordert und auf dem ersten Arbeitsmarkt gelingt es ihnen nur schwer, dauerhaft Fuß zu fassen. Hier ist die Gesellschaft noch mehr gefordert, sich für die verschiedenen Begabungen der Frauen mit FraX zu öffnen, denn nur so wird ein selbstständiges und glückliches Leben für sie möglich.
Freunde und Freizeit … wie kommen Frauen mit FXS zurecht?
Für Frauen mit FraX ist es nicht leicht, in einer Gruppe Freunde zu finden. Wer schüchtern ist, manchmal Probleme hat, Entscheidungen zu treffen oder sich nur schwer an Diskussionen oder Gesprächen beteiligen kann, wird leicht übersehen. Hier können Sport, Theater, Musik oder Tanz gute Kontaktmöglichkeiten in der Freizeit bieten. Dabei kann ein eigener Führerschein helfen. Einkaufen und Bummeln gehen sind auch bei Frauen mit FraX beliebte Freizeitbeschäftigungen, doch der Umgang mit dem Geld bleibt auch nach vielen Jahren Übung häufig schwierig. Reicht das Geld für den Einkauf, stimmt das Wechselgeld oder doch lieber gleich mit der Kreditkarte bezahlen, dann muss man nicht rechnen?
Wie sieht es mit der Familienplanung aus?
Einen Freund und später eine eigene Familie und Kinder wünschen sich sehr viele junge Frauen. Und eigentlich steht dem nichts im Wege. Die Frauen sollten nur über den Erbgang des FraX informiert und bei Fragen der Familienplanung begleitet werden. Mit einer theoretischen Wahrscheinlichkeit von 50% können sie vom FraX nicht betroffene Kinder bekommen. Mit einem verständnisvollen Partner und etwas Unterstützung sind Frauen mit Fragilem-X liebevolle, fürsorgliche Mütter.
„Wenn meine Tochter – zweifache Mutter – einen Kuchen backt, das Rezept für 4 Personen vorliegt und sie für 6 Personen backen will, ruft sie eben meine Enkelin auf dem Handy an – die rechnet ihr dann vor, wieviel Mehl sie benötigt!“