Kinder und Jugendliche mit FXS zeigen einige spezifische Besonderheiten, die im Schulalltag immer wieder zu Schwierigkeiten führen und Lehrer vor große Herausforderungen stellen können. Selbst speziell ausgebildete, erfahrene Förderschullehrer erleben immer wieder schwierige Situationen mit ihren Schülern. Um eine entspannte Lernsituation zu gewährleisten, gilt es, Stärken und Schwächen der Schüler mit FXS wahrzunehmen und darüberhinaus die besonderen Anforderungen, die sie an ihre Lernumgebung stellen, zu achten.
Wir möchten Ihnen hier gern Tipps an die Hand geben, die Ihnen und Ihren Schülern mit FXS den Alltag erleichtern sollen. Zum einen eine Liste mit den 10 wichtigsten Tipps im Umgang mit einem Schüler mit FXS („Top 10 Liste: Was ein Lehrer über das Fragile-X wissen sollte“), zum anderen den „Lehrerguide“, einen praktischen Ratgeber für den Unterricht.
Der Ratgeber (eine Übertragung des ersten Teils des „Lesson Planning Guide for Students with Fragile X Syndrome“ von Marcia Braden) bietet hilfreiche Tipps und Empfehlungen für die Unterrichtsgestaltung unter Berücksichtigung der Besonderheiten von Kindern und Jugendlichen mit FXS. Er gibt einen Überblick über den erfolgreichen Einsatz verschiedener Lernmethoden, vermittelt Schlüsselstrategien im Umgang mit Schülern mit FXS, beschreibt Interventionsmöglichkeiten für Lehrer beim Auftreten von Problemen im Unterricht und listet Leitlinien zur Entwicklung von Unterrichts- und Lehrplänen auf.
Lehrer von Kindern und Jugendlichen mit FXS sollten wissen, dass sie sehr anfällig für erhöhte Erregungszustände sowie Ängstlichkeit in sozialen Situationen sind. Die Ursachen dafür liegen vor allem im zentralen Nervensystem und sind ein Teil des FXS.
10 Tipps, um die Arbeit zu erleichtern und es den Schülern zu ermöglichen, ihre Aufmerksamkeit zu maximieren und ihre Erregungszustände und Angst zu minimieren:
1. Nicht auf Augenkontakt bestehen.
Wenn man den Schüler besser kennenlernt, und er sich wohler fühlt, kommt der Augenkontakt von alleine.
2. Erwarten Sie widersprüchliche Verhaltensweisen.
Beteiligung und Leistungen im Unterricht können sehr variieren. Die Gründe dafür sind manchmal schwer zu finden. Akzeptieren Sie das, um Frustrationen zu vermeiden; die Schüler erkennen Frustrationen und Ärger sehr schnell, was die Ängstlichkeit wiederum verstärkt.
3. Simultanes Lernen gelingt besser als sequentielles Lernen.
Schüler mit FXS lernen lieber ganzheitlich. Ganzwortlesen/Wortgestaltlesen funktioniert viel besser als „phonetisches“ Erlesen von Wörtern. Das Ergebnis von Handlungsschritten motiviert sie, die einzelnen Arbeitsschritte können sie sehr frustrieren, wenn ihnen nicht klar ist, wohin es führt. „Backward chaining“ führt oft zum Erfolg.
4. Viele Pausen einlegen.
Die Beibehaltung der Aufmerksamkeit klappt besser bei kurzen, übersichtlichen Aufgaben. Kurze Pausen helfen bei der Bewältigung von komplexeren Aktivitäten.
5. Verbale Äußerungen sind anstrengend.
Stellen Sie nonverbale Antwortalternativen zur Verfügung, damit die Schüler zeigen können, was sie wissen, z.B. indem sie auf die richtige Antwort zeigen. Akzeptieren Sie auch Antworten mit nur einem Wort.
6. Denken Sie „indirekt“.
Schüler mit FXS stehen oft nicht so gerne im Mittelpunkt. Geben Sie Lob oder ein Kompliment lieber in der dritten Person an jemanden anderes gerichtet, wenn der betreffende Schüler zuhört; fördern Sie beiläufiges Lernen; unterrichten Sie eine Kleingruppe und richten Sie die Instruktionen an einen Mitschüler, so dass der Schüler mit FXS nur indirekt angesprochen wird; vermeiden Sie offene Fragen: Statt „Wie heißt die Hauptstadt von Deutschland?“ sagen Sie lieber „Die Hauptstadt von Deutschland ist …“
7. Bereiten Sie auf Übergänge vor.
Geben Sie Hinweise 10 und 5 Minuten bevor eine neue Aktivität beginnt. Erlauben Sie dem Schüler, am Ende oder am Anfang einer Schlange zu stehen. Verwenden Sie „soziale Geschichten“, um Alltagsübergänge zu meistern. Geben Sie Arbeitsaufträge, um Übergänge zu bewältigen (z.B. einen Brief ausliefern, anstatt von „von hier nach da“ zu laufen).
8. Arbeiten Sie mit Ergotherapeuten, die sensorische Integrationstherapie anwenden, zusammen.
Wenden Sie Strategien der Sensorischen Integration im Alltag an. Schüler mit FXS entwickeln schnell Ängstlichkeit und kommen in einen hypererregten Zustand. Dadurch wird ihre Aufmerksamkeit stark beeinträchtigt. Finden Sie heraus, welche Strategien der sensorischen Integrationstherapie sich eignen, um sie wieder zu beruhigen. Körperliche Anstrengungen, wie Tische schieben, Fenster putzen, Bücherstapel tragen, funktionieren manchmal. Vestibuläre Reize, wie laufen, schaukeln, Skateboard oder Rollbrett fahren, helfen vielleicht. Integrieren Sie diese körperlichen Betätigungen in den Alltag.
9. Beachten Sie Auslöser der Umgebung.
Schüler mit FXS werden schnell durch die Umgebung überstimuliert. Sie zeigen oft sensorische Übersensibilisierung gegenüber Geräuschen, Licht, Materialien, Geschmack. Verändern Sie die Umgebung: Licht abdimmen, Kopfhörer gegen Umgebungsgeräusche tragen, Auswahl des geeigneten Sitzplatzes im Klassenraum, …
10. Kennen Sie die Stärken von Schülern mit FXS.
Besondere Stärken sind ein gutes visuelles Gedächtnis, Sinn für Humor, Empathie, Hilfsbereitschaft, gutes Nachahmungsvermögen. Verwenden Sie visuelle Hilfestellungen, motivieren Sie durch humorvolles Lernen, fordern Sie den Schüler auf, auch Mitschüler emotional zu unterstützen, Lernen am Modell. Integrieren Sie Lernziele in sinnvolle Handlungen und praktische Tätigkeiten –
UND HABEN SIE VIEL FREUDE MIT IHREM SCHÜLER MIT FXS!
Original von H. Laurie Yankowitz, Ed.D., New York
Übersetzung mit Genehmigung: C. Goebell
Wie sich die Schule auf die besonderen Bedingungen eines Schülers mit Fragilem-X Syndrom einstellen kann (Beispiel Mike, 15 Jahre)
von Carsten Goebell, Helene-Haeusler-Schule, Berlin
Der Alltag in der Schule kann für ein Kind oder einen Jugendlichen mit FXS eine große Herausforderung darstellen.
Zu den größten Schwierigkeiten gehört das Bewältigen von Übergangssituationen, die gerade in höheren Klassen immer komplexer werden. So findet im Laufe eines Schultages der Unterricht oft in unterschiedlichen Räumen statt, die Lehrer und Bezugspersonen wechseln sich ab und es wird immer mehr Selbständigkeit von den Schülern erwartet. Auch innerhalb der Unterrichtsstunden gibt es oft Aktivitätswechsel, mal arbeitet man zu zweit, mal in Kleingruppen und dann wieder alleine. Alle diese Situationen können für einen Schüler mit FXS sehr problematisch sein, auch wenn er sie schon oft erlebt und geübt hat. Denn jeder Übergang bedeutet zunächst, dass eine gewohnte, bekannte Umgebung verlassen werden muss und eine neue, unbekannte aufgesucht wird. Und dabei können unzählige unvorhersehbare Dinge geschehen: Man wird ohne Vorwarnung angesprochen, muss sich wieder neu orientieren und sich seinen Platz suchen, hört andere Geräusche und kann sich womöglich nicht verstecken.
In der Schule ist es oft sehr laut, die akustischen (und visuellen) Reize sind für den Schüler schwer zu kontrollieren und können zu einer sensorischen Übererregung führen, die ein erfolgreiches Teilnehmen und Lernen sehr beeinträchtigen kann. Dann gibt es manchmal großes Gedränge, in großen Klassen ist es nicht leicht, seinen Platz zu behaupten. Die zahlreichen sozialen Situationen, zum Beispiel Interaktionen und Gespräche mit anderen Schülern und Lehrern, können den Schüler immer wieder aufs Neue in Bedrängnis bringen. Nicht zuletzt sind da noch die Anforderungen, die von den Lehrern gestellt werden, denn es handelt sich ja um Unterricht und die Schüler sollen etwas leisten.
Alle diese Schwierigkeiten bedeuteten für Mike, einen 15-jährigen Schüler mit Fragilem-X-Syndrom (FXS), so immense Herausforderungen, dass die Misserfolge und Frustrationen auf beiden Seiten, bei Schülern und Lehrern, vorprogrammiert waren. Im folgenden möchte ich beschreiben, wie wir es mit viel Geduld und gemeinsam im Team geschafft haben, die Situation für Mike zu verbessern. Mike besuchte eine Oberstufenklasse einer Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in Berlin. Der Beginn seines Schultages verlief in der Regel noch problemlos. Aber je länger der Tag dauerte, desto auffälliger wurde Mikes Unruhe. Und die äußerte sich immer öfter in Wutanfällen, Heulattacken und Aggressionen gegenüber Mitschülern und Einrichtungsgegenständen. Alle waren ziemlich ratlos.
Wir haben an unserer Schule ein sogenanntes Haus-und-Garten-Service-Team. Dort arbeiten Schülerinnen und Schüler der Abschlussstufe, die im Rahmen der Berufsvorbereitung Dienste für die Schule verrichten: Blumen gießen, Müll entsorgen, Schulhof und Gartenflächen pflegen, Essenkübel für das Mittagessen an die unteren Klassen ausfahren, im Schülercafé einzelne Klassen beim Frühstück und Mittagessen bedienen und einiges mehr. Ziele dieser Tätigkeiten sind neben der Berufsvorbereitung selbständiges Arbeiten, Einhalten von Zeitplänen, Befolgen von Handlungsabläufen, Übernehmen von Verantwortung sowie einfach ein wichtiger Bestandteil des Schullebens sein.
Das war für Mike die perfekte Lösung. Die Situation im Klassenverband wurde für ihn zu so einer großen Herausforderung, dass irgendetwas verändert werden musste. So kam er ins Haus-und-Garten-Service-Team. Allerdings nur stundenweise, so dass die Anbindung an seine Klasse nicht verloren ging. Er bekam immer nach der Frühstückspause einen individuellen Stundenplan mit Piktogrammen, damit er sich auf seine neuen Aufgaben einstellen konnte. Anfangs wurde er von einem Kollegen oder Praktikanten begleitet. Später wurde Mike immer selbständiger und hat seine Aufgaben mit einer unglaublichen Sorgfalt und Verantwortung ausgeübt. Seine Aufgabe war es, alle Blumen im Haus zu versorgen, in den Klassen, in der Aula, im Büro der Schulleiterin, im Lehrerzimmer. Die Kollegen waren alle informiert und Mike wurde sozusagen der Gärtner der Schule. Er zeigte hier eine Initiative und eine Ausdauer, die niemand von ihm erwartet hatte. Was ihn unter anderem sehr motivierte, waren die Arbeitsweste, die ihn deutlich als Mitglied des Haus-und-Garten-Service-Teams auszeichnete, sowie ein einfaches Funkgerät, mit dem er bei Problemen den verantwortlichen Lehrer anfunken und um Hilfe rufen konnte. Im Gegensatz zu den schwierigen Situationen im Klassenraum hatte Mike plötzlich viel Raum und Gelegenheiten zur Selbststeuerung. Am Ende seiner Arbeiten bekam er mithilfe eines Token-Systems eine direkte Rückmeldung über seine Tätigkeiten. So konnte er kleine Aufkleber sammeln und am Ende der Woche in Belohnungen eintauschen. Wichtig war jedoch vor allem die visuelle Rückmeldung über sein Verhalten. Im Laufe der Zeit konnte Mike immer mehr mit anderen Schülern zusammen arbeiten. Einzelne Mitschüler aus seiner Klasse konnten ihn als Gastschüler begleiten und von ihm die Arbeitsschritte erlernen.
Bei der Arbeit mit Schülern mit FXS zeigt sich immer wieder, dass wir ihnen viel Raum geben müssen und dass eine Steuerung aus der Ferne oft viel effektiver sein kann, als wenn eine Lehrperson ständig neben ihnen sitzt und alle Tätigkeiten überwacht. Wir müssen ihnen Verantwortung übergeben und die Lerninhalte in sinnvolle Zusammenhänge einbetten. Um die Schwierigkeiten, die ein Schüler mit FXS mit schulischen Anforderungen haben kann, zu bewältigen, muss die Schule alternative Wege finden, den Alltag zu gestalten. Es darf nicht einfach versucht werden, den Schüler an die vorherrschenden Bedingungen anzupassen, sondern es müssen seine individuellen Voraussetzungen, seine durch das FXS verursachten Bedingungen berücksichtigt werden, um die tägliche Routine an ihn anzupassen.
Mike konnte sich mit diesen Modifikationen in seinem Stundenplan wiederum gut auf die verschiedenen Anforderungen im Alltag einstellen und zunehmend auch wieder in den Klassenunterricht integriert werden. Wenn wir Erfolg im Unterricht mit Schülern mit FXS haben wollen, müssen wir uns auf ihre besonderen Bedingungen einstellen, bevor es zu einem Scheitern kommt.
Zu diesen proaktiven Strategien zählen unter anderem:
- Unterricht in Partnersituationen oder Kleingruppen
- einen Sitzplatz in der Nähe der Tür oder am Rand, damit der Schüler immer eine gute Übersicht über das Geschehen hat
- Struktur und Vorhersehbarkeit schaffen sowie Übergänge vorhersehen, visuelle Hilfestellungen und Ablaufpläne verwenden, um die guten visuellen Lernfähigkeiten des Schülers zu nutzen
- Akustische Ablenkungen minimieren, wenn möglich natürliches Licht verwenden
- Gedränge vermeiden, z.B. auf dem Flur bestimmte Zeiten nutzen, wenn die anderen Schüler noch in ihren Klassen sind
- nonverbale Hilfestellungen und Rückmeldungen geben
- mit Ergotherapeuten zusammen arbeiten und spezielle Beruhigungstechniken im Alltag anbieten (auch Sensorische Integrationstherapie)
- physische Aktivitäten fordern
- Rückzug aus Stresssituationen erlauben
- viele Pausen erlauben und dem Schüler Wege zeigen, wie er diese Pausen einfordern und gestalten kann
- dem Schüler Zeit und Raum geben
Fragen und Antworten
Wo bekomme ich weitere Informationen über Fragiles-X?
Weitere Informationen über Fragiles-X finden Sie auch auf den anderen Bereichen auf dieser Webseite.
Oder kontaktieren Sie die Beraterinnen der Interessengemeinschaft Fragiles-X e.V.